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Eine „besondere Fachkraft“: Altenpflegerin Anika Niebler

Am Anfang gab es Bedenken. Eine gehörlose Kollegin? Wie kann sie mit Mitarbeitern kommunizieren und wie mit Klienten? Ist sie in der Lage, einen Arbeitstag mit etwa 15 Stationen bei pflegebedürftigen Menschen zu bewältigen? Kann sie Auto fahren? „Wir konnten uns das nur schwer vorstellen“, sagt Ulrike Blechschmidt, stellvertretende Pflegedienstleitung der Sozialstation der Johanniter in Hannover. Dann kam Anika Niebler zum Vorstellungsgespräch und fegte alle Vorbehalte vom Tisch. Die dreijährige Ausbildung zur Altenpflegerin so gut wie abgeschlossen, den Führerschein in der Tasche, eine eigene Wohnung, ein aufgeschlossenes Wesen und ganz viel Willen. Die Johanniter vereinbarten mit ihr erstmal ein sechswöchiges Praktikum, zum Oktober folgt nun die Anstellung als examinierte Altenpflegerin in der ambulanten Pflege. Ihr neuer Arbeitgeber ist froh, sie halten zu können. Die Klienten fühlen sich von Anika Niebler sehr gut gepflegt und auf besondere Weise wahrgenommen. „Sie erreicht Menschen auf einer anderen Ebene. Durch das fehlende Gehör arbeitet sie sehr konzentriert. Sie ist mehr da“, versucht Ulrike Blechschmidt die Besonderheit zu beschreiben.

Anika Niebler und Ulrike Blechschmidt, stellvertretende Pflegedienstleiterin der Johanniter-Sozialstation Hannover, im Gespräch. Foto: (JUH/Jan Klaassen)

Den passenden Beruf zu finden, ist für gehörlose Menschen nicht leicht. Anika Niebler hat es versucht. Drei Wochen Praktikum in der Schneiderwerkstatt des Hamburger Schauspielhauses, drei Wochen in einem Zahntechniklabor. Schnell stand fest: Das ist es nicht. „Nur alleine zu arbeiten“, sagt Anika Niebler und verzieht das Gesicht, „das macht mich nicht glücklich.“ Ein zweiwöchiges Praktikum in einem Altenheim für Hörgeschädigte stellte die Weiche, es folgte eine dreijährige Ausbildung zur Altenpflegerin an der Gehörlosenfachschule für Soziale Berufe in Rendsburg. Im Rahmen dieser Ausbildung machte Anika Niebler mehrere Praktika, das letzte in diesem Sommer bei der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. (JUH) in Hannover. „Die Kollegen hier haben mich gleich angenommen, ich habe sofort zum Team gehört“, sagt Anika Niebler. Im Gespräch mit anderen Mitarbeitern kann die 22-Jährige meistens von den Lippen ablesen. Wenn es mal hakt, kommen erklärende Gesten oder Zettel und Stift zum Einsatz. Anika Niebler begleitete eine Kollegin einige Tage auf ihrer Tour, dann fuhr sie alleine los. „Das Einarbeiten ging mit ihr wirklich sehr schnell“, erinnert sich Ulrike Blechschmidt.

Altenpflegerin Anika Niebler auf ihrer Tour bei Erhard Bark in Hannover-Kirchrode. (Foto: JUH/Sylke Heun)

Die Klienten reagierten ebenso aufgeschlossen. Es dauerte nicht lange, da hatte Anika Niebler ihnen die ersten Gesten in Gebärdensprache beigebracht, beispielsweise „Guten Morgen“ oder „Tschüss, bis morgen“. Christa Bark (78) aus Hannover-Kirchrode beispielsweise begrüßt Anika Niebler frühmorgens lächelnd und mit Geste an der Tür, dann begleitet sie die Altenpflegerin ins Wohnzimmer zu ihrem Mann Erhard. Anika Niebler kontrolliert seine Medikamenteneinnahme, klebt Pflaster, zieht ihm Kompressionsstrümpfe an. Ganz in Ruhe und sehr zugewandt. Dann verabschiedet sie sich auch schon wieder, informiert aber vorher noch, dass sie morgen einen Tag freihat. „Dann also bis übermorgen“, sagt Christa Bark. Ihr Mann winkt vom Sofa: „Anika ist ein Schatz. Man gibt ja viel im Leben, aber man bekommt auch zurück und mit ihr ist es nicht wenig.“

So wie das Ehepaar Bark waren auch alle anderen vom Neuzugang begeistert – bis auf eine ältere Dame, die zwar mit der Pflegeleistung sehr zufrieden war, aber kritisierte, dass sie sich mit Anika Niebler ja gar nicht unterhalten könne. „Wir sind aber auch ein Pflege- und kein Unterhaltungsdienst“, war die Antwort der Pflegedienstleitung. So ganz stimmt es auch nicht. Anika Niebler beobachtet sehr genau und kann aus der Mimik, Gestik und Gesamterscheinung eines Menschen Erkenntnisse ziehen, die Hörenden oft verborgen bleiben. Sie kommuniziert mit den Augen und Händen, kann auch ohne Sprache, dafür mit allgemeingültigen Gesten viel zum Ausdruck bringen. Ihre Mutter Christine Niebler bringt es auf den Punkt: „Quatschen kann Anika gut.“ Für die ebenfalls in Hannover lebenden Eltern war die Berufswahl ihrer Tochter anfangs überraschend, jetzt sehen sie, wie viel Spaß sie bei der Arbeit hat. In den kommenden zwei Jahren wird Anika Niebler arbeiten und Praxiserfahrung sammeln. Fort- und Weiterbildungen wird es danach nur mit der Begleitung eines Dolmetschers geben können. Gehörlose Menschen in der Pflege sind – noch – eher eine Ausnahme. Anika Niebler wird das nicht aufhalten.

Tags: Altenpflege, Arbeit, beruf, Inklusion, Job, Pflege, Pflegedienst

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