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Ein „Konzert für alle“ – Jan Sell auf der Orchesterbühne

 

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Konzert für Alle“ zeigte das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin am 23.05.2025 eine Aufführung mit Gebärdenpoesie, performt von Jan Sell. „Wir wollen gerade das Nicht-Hörbare sichtbar und verständlich machen.“ Dieser Satz stammt aus dem Programmheft, das den Gästen im Foyer des Hauses des Rundfunks vor Konzertbeginn überreicht wurde. Er bringt auf den Punkt, worum es den Leuten hinter der Konzertreihe geht. Denn an diesem Abend trat der angekündigte Gebärdenpoet Jan Sell auf.

Bevor das Konzert beginnt, wird dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) der „Preis Innovation“ durch den Vorsitzenden der Jury, Louwrens Langevoort, verliehen. Ausgezeichnet werden damit Projekte der Münchner Symphoniker und des RSB, die sich durch ihr vorbildliches Engagement für inklusive Konzertgestaltung hervorgetan haben. Das Modellprojekt „Konzert für Alle“ soll Menschen mit Hör- und kognitiven Einschränkungen den Zugang zu klassischer Musik ermöglichen – und zugleich ein Appell sein für mehr Barrierefreiheit in der Kulturlandschaft.

Hinter dem Projekt stehen verschiedene Partner: das Zentrum für Kultur und visuelle Kommunikation Berlin/Brandenburg (ZfK), die Landesvereinigung Selbsthilfe Berlin e.V., die Lebenshilfe e.V. sowie die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Das Preisgeld in Höhe von 20.000 Euro wurde durch die Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten (GVL) sowie die Unterstützung von Frau Dr. Susanne Litzel ermöglicht.

Die Ansprachen werden von der Gebärdensprachdolmetscherin Lilia Nentwig verdolmetscht, die – wie auch Jan Sell – am Zentrum für Kultur und visuelle Kommunikation der Gehörlosen Berlin/Brandenburg e.V. (ZfK) tätig ist. Beide haben bereits zahlreiche Projekte gemeinsam umgesetzt. So dolmetscht Nentwig beispielsweise auch für den Tatort, dabei übrigens in sogenannter Referenzkleidung – also in Kleidung, die an die Filmcharaktere angelehnt ist. Das Konzept wurde vom ZfK entwickelt und erleichtert es, gleichzeitig dem Film und der Übersetzung zu folgen.

Wie andere Leute im ZfK-Team dolmetscht Jan Sell regelmäßig Live-Sendungen, etwa das Heute Journal, Logo oder die Tagesschau. Auch für Sendungen wie Tatort, Frontal 21 oder 37 Grad steht er vor der Kamera. Der ausgebildete Mediengestalter arbeitet außerdem als Kameramann, Moderator, Schauspieler, DGS-Dozent sowie als staatlich geprüfter tauber Dolmetscher und Übersetzer. In der Vergangenheit kooperierte er bereits mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, der Kammerakademie Potsdam und dem Bachfest Leipzig – ein echter Allrounder also.

Für Jan Sell ist es bereits die dritte Zusammenarbeit mit dem RSB. Beim ersten Auftritt im Jahr 2022 trat er gemeinsam mit Schüler*innen der Adolf-Eschke-Schule und der Wilhelm-von-Türk-Schule sowie seiner Kollegin Sandy Knispel auf. Bei den späteren Konzerten – so auch an diesem Freitag – stand er allein auf der Bühne. In der Aufführung der Enigma-Variationen verkörpert er den englischen Komponisten Edward Elgar. Das Stück wurde vor über hundert Jahren komponiert. „Enigma“ bedeutet Rätsel – und genauso rätselhaft ist das Werk selbst. Ist mit dem Komponisten wirklich Elgar gemeint? Oder vielleicht jemand, den er liebte?

Fest steht: Die Musik erzählt von Menschen, die Elgar wichtig waren. Etwa von einer Frau, mit der er tanzte und zu der sich langsam eine vertrauensvolle Bindung entwickelte. Oder von einer Schülerin, die auf der Bühne Lampenfieber bekommt und ihr Instrument nicht mehr sicher beherrscht. Oder von einer tiefen Freundschaft, in der sich zwei Menschen wortlos verstehen – ihre Köpfe aneinandergelehnt.

Jan Sell gelingt es, diese Szenen mit großer Leidenschaft und Ausdrucksstärke zu vermitteln. Er übersetzt den von Steffen Tast verfassten Text, der auch im Programmheft abgedruckt ist, in eine eigene Variation der Gebärdenpoesie. Dabei entsteht eine eindrucksvolle Verbindung zwischen Musik und Sprache. Schön ist auch die spürbare Harmonie zwischen Orchester und Gebärdenpoet: Tast blickt vom Dirigentenpult mehrfach nach hinten zu Sell, der ganz vorn in unmittelbarer Nähe zum Publikum steht – fast so, als wollten sich beide rückversichern, dass sie denselben Moment empfinden. Gemeinsam blättern sie ihre Konzertblätter beinahe synchron um.

Ein besonderer Moment: Zwei Orchestermitglieder stehen nacheinander auf und gebärden das Wort „Berg“ – passend zur musikalischen Passage. Auf dem Vorhang hinter dem Orchester erscheinen mit jeder Variation neue Farben: Blau, Rot, Grün, Gelb – die Farben der Begegnungen, die Elgar in sich aufgenommen hat wie ein Baum, der sie speichert.

Zum Ende des Konzerts malt Jan Sell mit diesen Farben ein Bild: Zwei Menschen fassen sich an den Händen, ein Hund, ein Boot – Motive, die auch im Text auftauchen. Es folgen mehrere Runden Applaus. Steffen Tast, Lilia Nentwig und Jan Sell verbeugen sich lachend zu dritt auf der Bühne. Ein Abend voller positiver Energie, Offenheit und Kunst.

Wer ebenfalls die Gelegenheit nutzen möchte, das nächste „Konzert für Alle“ mit Jan Sell zu erleben, hat dazu am 05. November im Haus des Rundfunks die Möglichkeit.

Bildquelle: RSB

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