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Bochum: Experte geht von „totalem Kommunikationsausfall“ durch Taser-Lampe aus

Taube Community
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Beim schief gelaufenen Polizeieinsatz in Bochum ist ein 12jähriges gehörloses Mädchen lebensgefährlich verletzt worden. Es sind viele Fragen offen und die Klärung wird Zeit brauchen. In Bezug auf den Waffeneinsatz und die generelle Polizeitaktik gibt es aber Erfahrungswerte von Experten. Einer dieser Experten ist Lars Winkelsdorf, mit dem Julia Probst über den Vorfall gesprochen hat. Auch wenn vieles noch offen ist, kann Winkelsdorf eine Sache sagen: Ab dem Moment, wo der Taser auf das Kind gerichtet war, war es durch die standardmäßig eingeschaltete Lampe geblendet, komplett kommunikationsunfähig und nicht in der Lage, einzuschätzen, wie weit sich die Polizei von ihm entfernt befindet. „In dem Augenblick, wo die Lampe eingeschaltet war, konnte das Kind objektiv nicht mehr kommunizieren“, so Winkelsdorf. 

Lest unten das gesamte Interview.

DGS-Kurzfassung des Interviews, übersetzt von Benedikt J. Sequeira Gerardo, unter diesem Link (YouTube) verfügbar. Auch auf Instagram unter @taubenschlag.de

Julia Probst: Herr Winkelsdorf, bevor wir in den konkreten Fall einsteigen: Sie sind Journalist, Autor und Sachverständiger für Waffen und Munition. Damit unsere Leser:innen/Zuschauer:innen wissen, aus welcher Perspektive Sie sprechen – könnten Sie kurz erklären, was genau Ihre Arbeit umfasst und welche Expertise Sie in solchen Situationen mitbringen? 

Lars Winkelsdorf: Ich befasse mich seit inzwischen 36 Jahren mit dem Thema intensiv, war unter anderem für Herstellerunternehmen tätig und habe viele Jahre ausgebildet, sowohl für staatliche Bildungsträger als auch bei Behörden, veröffentliche als Journalist regelmäßig zu diesem Thema und war auf Ebene des Bundestages und der Länder für mehrere politische Fraktionen beratend tätig. Zudem werde ich regelmäßig als Sachverständiger bei Gerichtsverfahren hinzugezogen.

JP: In Bochum wurde in der Nacht von Sonntag auf Montag eine 12-jährige gehörlose Jugendliche angeschossen.Sie war zuvor aus ihrer Wohngruppe zu ihrer ebenfalls gehörlosen Mutter geflohen, welche laut Medienberichten aber kein Sorgerecht und kein Aufenthaltsbestimmungsrecht mehr hatte. Die Wohngruppe meldete das Mädchen schon seit Sonntagnachmittag als vermisst, da sie auch auf Insulin angewiesen war und die Medikamente nicht bei sich hatte.Die Polizei suchte seitdem nach ihr. Viele Details sind aktuell noch unklar. 

Aus Ihrer fachlichen Sicht: Welche Faktoren beeinflussen eine Gefahrenlage, wenn eine Person – gerade ein Kind – polizeiliche Ansagen gar nicht hören oder verstehen kann? 

LW: Im Prinzip bestehen kaum Unterschiede, das taktische Vorgehen oder der Umgang mit der Waffe ändern sich dabei zunächst nicht, wohl aber bestehen höhere Sorgfaltspflichten. Die Sprache als “Führungs- und Einsatzmittel Nummer 1” kann ja gerade nicht die gewünschte Wirkung erreichen, ein “Herunterreden”, also das Deeskalieren der Lage mit klaren verbalen Direktiven, verpufft wirkungslos und das nimmt Spielraum für das eigene Verhalten. Von daher ist die Ausgangslage direkt von Anfang an schlechter und die Risiken für alle Beteiligten steigen an.

Das DEIG (Distanzelektroimpulsgerät), umgangssprachlich als “Taser” bezeichnet, verwendet in der Modellausführung “Taser 7” eine in das System integrierte Lampe mit hoher Leistung.

Was natürlich ideal ist für ein hörendes Gegenüber, es blendet, nimmt die Orientierung und verstärkt damit die Wirkung gerade bei verbalen Kommandos, für Gehörlose nimmt es aber eben die Sicht, so dass Zeichen nicht erkannt werden können, die Kommunikation wird somit nahezu unmöglich. 

Die Rahmenbedingungen sind somit also insgesamt ungünstiger.

JP: Das Mädchen war ja, wie gesagt, auf Insulin angewiesen und könnte zum Zeitpunkt des Einsatzes unter- oder überzuckert gewesen sein. Zusammengefasst: Wie stark können fehlende Kenntnisse über Diabetes, Gehörlosigkeit oder typische Stressreaktionen bei Kindern die Gefahreneinschätzung eines Einsatzes verzerren? 

Bei Diabetes besteht häufig das Risiko, dass die Symptome der Erkrankung von Laien falsch eingeschätzt werden, beispielsweise als “Betrunkene” und eine akute Lebensgefahr nicht erkannt wird. Für den aktuellen Fall in Bochum fehlen hier aber zu viele Informationen, um dies gegenwärtig bewerten zu können.

JP: Laut dem Bericht der Polizei ging das Mädchen mit zwei Messern in der Hand auf die Beamten zu. Wenn ein 12-jähriges Kind zwei Messer in der Hand hält – wie gefährlich ist das objektiv und was unterscheidet die Bedrohung durch ein Kind von einem Erwachsenen besonders in einem engen Raum? 

Im Grunde bestehen dabei zwischen Erwachsenen und größeren Kindern keine Unterschiede, die Messer sind tödliche Waffen, die aufgrund ihrer Merkmale drastisch gefährlicher als Schusswaffen sind: Die Klinge im Körper verursacht nicht nur einen einzelnen Wundkanal, sie “arbeitet”, sie schneidet bei Bewegungen weiter durch das Gewebe, kann große Blutgefäße durchtrennen und binnen weniger Minuten dann zum Verbluten führen.

Wird die Klinge aus dem Wundkanal herausgezogen, entsteht eine zweite Verletzung, man spricht von einer charakteristischen “Schwalbenschwanzform” dabei. Vier Stiche sind somit also nicht vier, sondern sieben Wunden, das macht es so gefährlich.

Unterhalb von sieben Metern, das haben Studien des FBI schon in den 1980ern gezeigt, bestehen bei der Situation “Schusswaffe gegen Messer” kaum Überlebenschancen für den Waffenträger, der Beamte muss im Prinzip sofort tödliche Gewalt einsetzen, will er sein eigenes Leben schützen.

Taktisch wäre hier also kein Vorwurf abzuleiten, wenn auch die Frage gestellt werden muss, ob es tatsächlich keine Alternativen gegeben hat – dazu allerdings wurden bislang keine Details durch die Polizei herausgegeben.

Es wäre wünschenswert, wenn hier die Behörden transparenter agieren würden, da der Vorfall inzwischen hochgradig emotionalisiert ist.

JP: Auf Twitter/X haben Sie den Vorgang erklärt, wie es passiert sein könnte, dass Taser und der Schuss gleichzeitig abgesetzt worden sind. Könnten Sie das für uns noch mal zusammenfassen, wie das abgelaufen ist und welche Gefahren dabei entstehen? 

In einer Stresssituation verhält sich ein Waffenträger, ob nun Polizist, Soldat oder Geldtransportfahrer, rein aus biologischer und psychologischer Sicht anders als man sich dies wünschen würde, es passieren Fehler und es gibt zahllose Quellen für mögliches Fehlverhalten dabei.

Im vorliegenden Fall soll von dem Beamten mit dem Taser und dem Beamten mit der Dienstpistole nahezu gleichzeitig geschossen worden sein, das kann – es muss nicht, aber es spricht aus der Erfahrung vieles dafür – ein “sympathischer Schießreflex” vorgelegen haben.

Das bedeutet, dass auf den Knall des Taser reflektorisch der Abzug betätigt wird, obwohl objektiv kein Grund dazu vorhanden ist. Eine ungewollte und unbeabsichtigte Handlung, im Prinzip ein Unfallgeschehen, wenn man so will: Eine Fehlschaltung im menschlichen Gehirn, ohne böse Absichten, die dem Schützen selbst hinterher häufig auch unverständlich ist. 

Ob hier ein solches Unfallgeschehen denkbar ist, werden die weiteren Ermittlungen zeigen müssen, ich würde es jedenfalls nicht pauschal ausschließen wollen. Was den Vorgang nicht entschuldigen würde, ihn jedoch erklärlich machen könnte.

JP: Welche speziellen Risiken bestehen beim Einsatz eines Tasers gegen ein Kind? Kann ein Taser die Situation eher beruhigen oder sogar unkontrollierbarer machen – etwa durch unkoordiniertes Verkrampfen oder Stürzen? 

LW: Das “Krampfen” ist eine Übersteuerung der elektrischen Bahnen in der Muskulatur, in aller Regel hält dies nur wenige Sekunden an. Dabei kommt es häufig zu Stürzen, wobei sich Sekundärverletzungen ergeben können, die natürlich versorgt werden müssen, sobald die Lage dies erlaubt.

Dabei ist der Taser eben kein Einsatzmittel wie ein Reizstoffsprühgerät oder ein Mehrzweckeinsatzstock, er ist eine Schusswaffe, nur eben eine sehr besondere Schusswaffe, die weitaus weniger tödlich ist als eine normale Dienstpistole. Für genau diese Lücke ist er da, um eben den Einsatz tödlicher Gewalt doch noch verhindern zu können, wo sonst keine Alternativen mehr bestünden.

Für ein Kind von 12 Jahren klingt das natürlich zunächst unverhältnismäßig, es bestehen da aber keine Unterschiede gegenüber kleineren Erwachsenen, entscheidend ist, dass nach dem Einsatz eine medizinische Versorgung erfolgt, um mögliche Verletzungen behandeln zu lassen und Risiken ausschließen zu helfen. Das sollte tatsächlich obligat sein.

JP: „Laut Medienberichten haben die Beamten an der Wohnungstür zuerst Gewalt gegen die gehörlose Mutter angewendet, sie fixiert und ihr Handschellen angelegt, weil sie die Polizei nicht hineinlassen wollte. Obwohl die Polizei wusste, dass Mutter und Tochter beide gehörlos sind, wurde kein Gebärdensprachdolmetscher angefordert – es gab also von Anfang an überhaupt keine barrierefreie Kommunikation.

Aus Sicht von uns Gehörlosen war genau diese Entscheidung der Punkt, an dem alles eskaliert ist, weil die Beamten völlig ausgeblendet haben, mit wem sie es hier zu tun haben: einem 12-jährigen Mädchen, das aus seiner Wohngruppe zu seiner Mutter geflohen ist, insulinpflichtig war, wahrscheinlich unter- oder überzuckert und zusätzlich gehörlos. 

Aus Ihrer fachlichen Perspektive: Wie beeinflusst so ein kompletter Kommunikationsausfall – verbunden mit Gewalt gegen eine vertraute Bezugsperson – die Wahrnehmung, das Verhalten und die Gefahreneinschätzung in so einer Lage, gerade bei einem Kind? 

LW:

Ich gehe von einem totalen Kommunikationsausfall durch den Einsatz des Taser selbst aus. In dem Augenblick, wo die Lampe eingeschaltet war, konnte das Kind objektiv nicht mehr kommunizieren.

Ich halte es sogar für fraglich, ob sich das Mädchen überhaupt der tatsächlichen Entfernung gegenüber den Beamten bewusst war, aber das müssen hier die weiteren Ermittlungen klären helfen. 

JP: Wie gefährlich ist ein Bauchschuss mit einer 9-mm-Dienstwaffe grundsätzlich bei einem Kind? Welche typischen Verletzungsmuster sehen Sie und von welchen Faktoren hängt es ab, ob ein solcher Schuss tödlich wirkt oder überlebt werden kann? 

LW: Bei der verwendeten Deformationsmunition im Kaliber 9mm Luger halte ich es für ausgesprochen wahrscheinlich, dass der Körperbau des Kindes hier einen wesentlichen Anteil am Überleben hatte. Das Projektil soll sich auf einer Strecke von einigen cm “aufpilzen”, es vergrößert seinen Durchmesser und gibt dabei mehr Energie ins Gewebe ab, dadurch entstehen radiale Rissbildungen. Die Wirkung solcher Projektile ist also nicht auf den Durchschlag optimiert, sondern auf die Energieabgabe, um wirksamer gegenüber Personen sein zu können.

Das Kind hat durch den anderen Körperbau hier weniger “Masse”, d.h. dieses Aufpilzen dürfte relativ zur Lage von Organen und Gefäßen erst spät eingetreten sein, später als bei Erwachsenen. So schlimm also dieser Vorfall auch ist, die Überlebenschancen sind aufgrund der Kombination aus Waffe und Munition besser, wenn auch nur eine Nuance.

JP: Welche forensischen Daten – etwa Schussentfernung, Winkel, Bewegungsabläufe und Munitionstyp benötigt man für eine sachverständige Rekonstruktion und können diese Hinweise darauf geben, ob die Verletzungen zur Darstellung der Polizisten passen? 

LW: Üblich sind hier dreidimensionale Scans des Tatorts und entsprechende Rekonstruktionen am Computer, wobei man einschränken muss, dass hier die Schussentfernung nach Medienberichten lediglich zwei Meter betragen haben soll, das macht dann bei den Winkeln kaum noch einen Unterschied.

Mich würde da vielmehr interessieren, wie die Elektroden des Taser getroffen haben, denn daraus ergibt sich, wohin mit der Lampe gezeigt wurde und ob das Kind hier überhaupt noch Anweisungen wahrnehmen konnte.

JP: Bei ähnlichen Vorfällen zeigt sich immer wieder ein Muster: Viele Polizeibeamt:innen sind kaum darauf vorbereitet, mit Menschen umzugehen, die nicht der Norm entsprechen – sei es in einer akuten Krise, mit Behinderungen oder mit besonderen Kommunikationsbedürfnissen. Halten Sie es für realistisch, dass sich nach diesem Fall etwas Grundlegendes in der Ausbildung ändern könnte?

Und wenn Sie eine einzige Empfehlung geben dürften:“Was müsste geschehen, damit Einsätze mit gehörlosen, nicht kommunikationsfähigen oder psychisch belasteten Menschen – insbesondere Kindern – künftig sicherer ablaufen?“ 

LW: Insgesamt ist Eigensicherung ein Thema, bei dem es für die Beamten darum geht, lebend zurück nach Hause zu kommen, wenn der Dienst vorbei ist. Dazu gehören auch Taktiken und Methoden, die für Laien unangenehm, teilweise unangemessen erscheinen können, jedoch notwendig und unvermeidbar sind. Denken wir an die Schusswaffendrohung in vermeintlichen Gefahrensituationen, die wohl niemand passiv erleben will.

Für den Umgang mit psychisch oder physisch Kranken bestehen insgesamt Defizite, ich hatte dazu im Zusammenhang mit dem Amoklauf 2023 in Hamburg recherchiert und war entsetzt, wie gering die Kenntnisse der Hamburger Polizei bei diesem Themenbereich tatsächlich sind und wie wenig Ausbildung zu dem Thema besteht, das wird komplett unterschätzt. Gleichwohl kann nicht jeder Polizist hier die umfassenden Kenntnisse von Medizinern oder Psychologen erhalten, die meisten wären auch gar nicht in der Lage, diese Inhalte verstehen oder einordnen zu können. Hier wäre also eine Verzahnung der unterschiedlichen Arbeitsbereiche notwendig

Der Polizist soll kein Psychologe oder Sozialarbeiter sein, aber er sollte rund um die Uhr solche Experten erreichen können, um sich beraten lassen zu können.

Tags: Bochum, Polizei, Polizeigewalt, Taser

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